Against Interpretation

veröffentlicht in: Build 04-2004


Was ist das Außergewöhnliche an dem Gebäude?

Die Aufgabenstellung war eigentlich sehr konventionell; der Bauherr wünschte, zwei Wohnungen und eine Büroeinheit in einem relativ gesichtslosen Kölner Stadtteil zu realisieren. Komplex wurde sie, da ein Übermaß an Regeln auf diesem Grundstück gilt. Zusätzlich zu den Baugesetzen und Landesbauvorschriften, gilt ein vollkommen absurder Bebauungsplan, der in den 70er Jahren mit dem Ziel aufgestellt wurde, in einer gewachsenen Industrievorstadtstruktur eine dörfliche Siedlung aus Einfamilienhäusern mit Vorgarten und Garten hinter dem Haus zu realisieren. Dieser Plan – eine Totgeburt, die kein einziges Mal angewandt wurde aber immer noch geltendes Recht ist – sieht eine Verbreiterung der Straße und eine extrem niedrige Bebauungsdichte vor, die jedes wirtschaftliche Bauen praktisch unmöglich macht. Aus diesen Vorgaben entwickelte ich das Konzept eines zweiteiligen Raumgefüges. Ein Teil des Gebäudes, den ich „legal“ nenne, richtet sich nach allen Bauvorschriften. Er wird durchbohrt von einem „illegalen“ Baukörper, in den Außenbereichen rot eingefärbt mit einer freien Form, der sich möglichst vielen Regeln widersetzt.

 

Könnten Sie das noch etwas präzisieren?

Der so genannte „legale“ Teil wird geformt durch das Gesetz. Er tritt von der Straße zurück, hält sich an die Baudichte und ist insofern brav, als er orthogonal ist, die Abstandsregeln einhält und die Geschossflächenzahl. Der rote, „respektlose“ Baukörper hingegen dürfte nicht existieren. Er verdreifacht die Kubatur und hält sich auch an mehrere andere Regeln nicht. Zunächst verunklärt er die klassischen Kategorien des Bauens da nicht mehr klar erkennbar ist, was Wand, was Dach, und was Deckenuntersicht ist. Dann folgt er nicht den Abstandsregeln, bestimmten Vorschriften des Denkmalschutzes, des Brandschutzes, die er nur über Umwege wieder einhält. Dabei versuche ich das Potential der Enge in der Baulücke auszunutzen. Alle Wohnungen und Büros gehen über mehr als eine Ebene und schaffen durch das Aufeinanderprallen von zwei unterschiedlichen Geometrien interessante und, wie ich glaube, aufregende Räume auch in der Vertikalen.

 

Waren gerade die rechtlichen Zwänge dafür ausschlaggebend, dass der Bauherr Ihnen relativ freie Hand bei der Architektur gelassen hat?

Der Bauherr besaß dieses „Problemgrundstück“ schon mehrere Jahre. Er hatte sich zuvor einen Standardentwurf von einem bundesweit agierenden Generalunternehmer machen lassen und konnte leicht ausrechnen, dass er zum garantierten Baupreis bei einem durchschnittlichen Verkaufswert nie zu einem profitablen Ergebnis kommen würde. So hat er aus rein rationalen und wirtschaftlichen Erwägungen entschieden, etwa fünf Prozent mehr Baukosten in „Architektur“ zu investieren, um einen vielleicht 15 oder 20 Prozent höheren Verkaufspreis erzielen und zumindest auf eine schwarze Null kommen zu können. Da er nicht aus Idealismus in gute Architektur investiert hat, waren auch die Rollen klar verteilt. Ich mache die Architektur, er das Übrige; jeder macht das, wofür er ausgebildet ist.

 

Was waren die Strategien, um dennoch die Baugenehmigung zu erhalten?

Ich habe nie versucht, die Regelwidrigkeit zu verstecken, und auch den Titel „Legal/Illegal“ ziemlich früh gewählt. Ich glaube, dass diese Offensichtlichkeit wichtig ist und im Gegensatz dazu ein subversives Vorgehen das Konzept schwächen würde und letztendlich einer Architektur die Glaubwürdigkeit nimmt. Zum Stadtplanungsamt, zum Bauaufsichtsamt bin ich immer mit dem Modell gegangen; damit kann man keine Regelwidrigkeit beschönigen, wie es vielleicht durch ein geschicktes Anlegen von Schnitten oder Grundrissen möglich ist. Natürlich gab es Ausgleichsmaßnahmen, im Brandschutz oder bei den Abstandsflächen. Aber vor allem habe ich mit architektonischer und städtebaulicher Qualität argumentiert. Köln-Bayenthal ist ein sehr charakterloser Stadtteil, der hauptsächlich durch hässliche Häuser mit verputzten Wärmedämmverbundsystemen geprägt wird, und ich habe argumentiert, dass es für den Kontext ein Gewinn ist, wenn eine Architektur  realisiert wird, die sich nicht dieses graue Mittelmaß zu eigen macht.

 

Es überrascht, dass man damit durchkommt.

Man sieht ein bisschen, wie die Behörden arbeiten, wenn man sie mit einer offensichtlichen Regelübertretung konfrontiert. Wir wurden beispielsweise aufgrund der hohen Baudichte verpflichtet, hochwertige Außenflächen anzulegen. So habe ich in den Plänen alle Pflanzen aufgelistet, Azaleen, Ahorn, Rhododendron- und Rosenbüsche usw. In der Baugenehmigung wurden diese Pflanzen, die ich eigentlich wahllos, wie ich gestehen muss, aufgegriffen habe, dann Stück für Stück genannt: Sie wurden praktisch wieder zum Gesetz. Man sieht, wie das Bauaufsichtsamt versucht hat, Ausgleichsmaßnahmen zu ermöglichen, aber sich zugleich sehr schwer damit getan hat.

 

Die Form des Baukörpers selbst aber scheint sehr willentlich herbeigeführt. Entspricht diese Exponiertheit einer Haltung, oder würden Sie auch dafür praktische Gründe anführen?

Nein, es  kann dafür keine praktischen oder unpraktischen Gründe geben. Ich fände es fatal, wenn man versucht, jeden Handstrich zu rationalisieren und im Nachhinein zu begründen. Natürlich ist es ein Wille zum geformten Raum, der dort zum Ausdruck kommt, und natürlich bin ich mir auch bewusst, dass es ein Ausrufezeichen in diesem Stadtteil ist. Diese Offensichtlichkeit, einschließlich einer gewissen Plumpheit, ist mir sympathisch. Der Bau ist nicht anheimelnd, sucht keinen Kompromiss; das ist wichtig. Es ist zu viel Eleganz gebaut worden, es findet zu viel mediatives Ausgleichen statt; man kann es nicht mehr sehen. Diese ewige Glattheit oder  elegante Architektur ist furchtbar.

 

Sie plädieren gegen das Mittelmaß.

Natürlich geht es mir darum, dem Dogma des Mittelmaßes zu entkommen. Im Gegensatz zum Zweideutigen und Eleganten ist das Ungelenke und Offensichtliche zunächst etwas tollpatschig. Aber in dieser Direktheit liegt eine Kraft, die wichtig ist, weil sie angriffswillig macht. Sie kann offensichtlich leicht kritisiert werden, aber in ihr ist ein Wert enthalten, der heute relativ selten ist. Wir müssen von einer ambivalenten und vielfach signifikanten Architektur wegkommen, da sie sich dadurch ihrer gesellschaftlich performativen Kraft beraubt. „Against Interpretation“, wie Susan Sontag sagt.

 

Muss Architektur demnach laut sein?

Das ist vielleicht eine Allgemeinweisheit: Es kommt natürlich auf den Kontext an. Aber in Gefälligkeit zu verweilen und in modischer Schicklichkeit lehne ich ab. Bayenthal ist suburban, hat aber große urbane Qualitäten. Der Kontrast von kleinteiliger Struktur und einer 30-geschossigen Hochhauswand gibt diesem biederen Stadtteil eigentlich eine große Kraft. Deshalb kann er ohne weiteres ein Gebäude in knalligem Rot vertragen. Ich glaube aber, dass man diesem Zwang des Dialogs und des Diskursiven entkommen muss und dass daher Begriffe wie „Ausrufezeichen“ oder „das Außergewöhnliche“ die Vorgehensweise letztlich nicht richtig beschreiben. Sie ist eher der Versuch, einer Dialektik (??) zu entkommen. Ich versuche, das Mediative, das Ausgleichende zu reduzieren. Es muss nicht jedes Mal ein Haus sein, das doppelt so groß oder farbig ist wie der Kontext, aber ich glaube, es ist wichtig, diesem ach so eleganten Drang nach Ausgleich und Konsens entgegen zu treten.

 

Sie würden eine Radikalität mit erhöhtem Risiko des Scheiterns einer vermittelten, kompromissbereiten Architektur vorziehen?

Ja, natürlich.

 

Die Stadtentwicklung wird heute vorrangig von anderen Berufsgruppen als den Architekten geprägt. Ist diese Haltung auch Versuch, da Einfluss zurück zu gewinnen?

Häufig sind die Architekten mit Aufgaben konfrontiert, die eigentlich monströs sind. Gerade im Suburbanen ist eine Wohnsiedlung mit 2.000 Wohneinheiten etwas Absurdes. Die Strategie, die dann häufig zum Tragen kommt und auch in Bebauungsplänen, also in der Sprache der Bürokratie festgeschrieben wird, zielt darauf, etwas Heimeliges zu schaffen, eine ach so menschliche Bebauung zu erzeugen. Und da wird die Architektur, wird der Architekt, wenn er sich dem unterwirft, unehrlich. Er  wird zum Heuchler. Ich glaube, es ist wichtig, sich dieser Heuchelei bewusst zu werden und sie auch der Allgemeinheit deutlich zu machen.

 

Was bei großen Projekten deutlich schwieriger umzusetzen sein dürfte als bei einem Kleinstbau.

Natürlich ist es – da muss man sich nichts vormachen – im kleineren Maßstab immer leichter, ein gewisses Interesse zu verwirklichen, als in einem Maßstab von 2.000 Wohneinheiten. Aber dann obliegt vielleicht diesen kleinen Projekten eine große Verantwortung, indem sie entblößen, welche Mechanismen tatsächlich auf die städtische oder vorstädtische Entwicklung einwirken.

 

Heißt das, wir reden über eine Repolitisierung der Architektur?

Das wäre wünschenswert. Der politische Aspekt von städtischen Eingriffe und Projektierungen wird häufig verdeckt durch Mechanismen wie Bebauungspläne, die etwas nivellieren oder eine „angenehme Atmosphäre“ erzeugen sollen, oder auch das Benennen als „Carrés“, wie es so beliebt ist. Und der Architekt spielt da liebend gerne mit, wenn er diese Mechanismen aufgreift und Namensvorschläge für ein weiteres Carré macht. Die Strategien, die durch Städte, durch Immobilienfonds, durch Stadtsparkassen verfolgt werden, sind politisch, und es liegt in der Verantwortung eines Architekten, diese zu entblößen und aufzudecken, dass es dabei um mehr geht, als nur die qualitätvolle Gestaltung des Außenraums in einem Neubauviertel oder das energieeffiziente Organisieren irgendwelcher Bürogebäude.

 

Wenn man Sie recht versteht, ist der Kontrast zur Umgebung nicht Ziel, sondern Ergebnis Ihrer Haltung. Dennoch dient er natürlich der eingeklagten Offensichtlichkeit. Ist das ein Problem auf Arealen, die ein solches Gegenüber kaum anbieten, weil der projektierte Maßstab schlicht zu groß ist oder man sich in den zerrissenen Flächen der Regionallandschaften bewegt?

(Natürlich tue ich mich schwer, irgend eine Pauschalantwort zu geben. Reden wir über Gewerbegebiete, über Wohnsiedlungen oder über die grüne Landschaft, wo ein, zwei neue Gebäude gebaut werden?) Häufig sind die Strategien, die benutzt werden, um im Suburbanen einen städtebaulichen Eingriff zu realisieren, Zeugnis eines Dilemmas, in dem sich die Projektentwickler befinden. Sie wollen eine großmaßstäbliche Planung in möglichst kurzer Zeit realisieren, möchten eine Überschaubarkeit haben, ganz gleichgültig, ob es sich um Gewerbe- oder Wohnarchitektur handelt. Sie wollen trotzdem eine Identität, eine Wiedererkennbarkeit realisieren, und das machen sie dann in Form eines Stilmittels, eines formalen Regelwerks, das auf einen Stadtteil projiziert wird. Wir kennen diese neuen Stadtviertel, deren Straßen dann Tannenweg, Erlenweg und Eichenweg genannt werden und deren Fassaden oder deren „straßenbegleitendes Grün“ sich möglichst diesen Namen irgendwie angleichen sollen, um Identität zu schaffen. Das ist ein fataler Weg, um sich mit diesem Dilemma zu befassen, und ich glaube, dass ein Auseinandersetzen mit dem dahinter liegenden Regelwerk, auch mit wirtschaftlichen Mechanismen, die am Werke sind, ein fruchtbarerer und effizienterer Weg ist, um eine Architektur zu schaffen, die eigenständig ist und einen Charakter erzeugt, ohne auf banalen Formalismus zurückzufallen.

 

Zumal die angewandten Methoden mit Identität nichts zu tun haben.

Benennungen sind nicht identitätsstiftend, aber sie sind es im Augenscheinlichen, genauso wie die grüne Fassade im Hochhaus augenscheinlich identitätsstiftend ist. Es ist die einfachste Lösung. Weder die Investoren, noch die Stadt, noch wir Architekten scheinen in der Lage, andere Methoden aufzuzeigen. Was vielleicht einfach auch mit der Krux der Aufgabe selbst zusammenhängt: mit dem Monströsen, einen Stadtteil für 20.000 Einwohner innerhalb eines Jahres zu planen, wie es zum Teil ja der Fall ist. Und mit unserer Phantasielosigkeit und fehlenden Risikobereitschaft.

 

Müsste der Architekt also seine Werkzeuge, vielleicht sogar die Grenzen seines Berufsfeldes überprüfen? Zugespitzt formuliert: Sollte der Architekt in die Politik gehen, um in andere Formen eines Dialogs einzutreten?

Der Architekt sollte in die Politik gehen, schlimmer kann es dort nicht werden. Der Architekt sollte auch immer die Möglichkeit des Nichtstuns mit einbeziehen, auch wenn das schwer fällt, auch wenn seine Eitelkeit, unsere Eitelkeit, meine Eitelkeit häufig dagegen spricht, weil man ja doch immer eine Lösung weiß, so glaubt man. Der Architekt sollte sich zumindest seiner Heuchelei bewusst werden und wenn wir wie Barbaren über eine unbefleckte Landschaft herfallen, sie beplanen und bebauen, so sollten wir das dann vielleicht auch machen wie Barbaren. Vielleicht sollten wir endlich dieses schöne und akzeptable Bauen verlassen und versuchen, ein brutales Bauen, eine Architektur des Barbarischen wieder zuzulassen.

 

Aber Angst vor Zynismus haben Sie nicht.

Ich habe große Angst vor Zynismus. Ich lehne ihn ab, weil er destruktiv ist und meine Forderung nach einem Brutalismus ist keineswegs zynisch oder als Jux gemeint. Ich meine kein Planen mit Zynismus, sondern vielleicht mit einem gewissen Humor. Das kann manchmal durchaus konstruktiv sein.