Für ein neuen Brutalismus

 

Veröffentlicht in: Build, 02-2004

 

In der Matrix der Begriffsfelder „Identität“ und „Architektur“, nimmt das englische Wort „vernacular“ einen zentralen Platz ein. Im Deutschen sehr unzulänglich mit „regional“übersetzt, beschreibt es im Kontext des Bauens eine tradierte Architektur, die sich aus einem kollektiven Bewusstsein bildet und durch externe Faktoren wie regional vorkommende Baustoffe, klimatische und geographische Bedingungen und – über Generationen – gewachsene Regelwerke geformt wird. „Vernakulare“ Architektur ist keine Architektur der großen Baumeister, sondern kommt aus dem Handwerk. Die Beispiele der Schwarzwald-Häuser, die „gestapelten“ Orte an den Hängen der Amalfi-Küste oder die marokkanischen Lehmdörfer, zeigen jenes Verhältnis von Identität und Architektur. Obwohl die Rahmenbedingungen, die diese Architektur formen, durchaus von politischer und rechtlicher Natur sein können, ist die „vernakulare“ Architektur keine politische Architektur. Da kein demagogisches oder ideologisches Interesse involviert ist, kann sie als a-politisch beschrieben werden.

 

In Zeiten der Globalisierung kommt der „vernakularen“ Architektur aber eine ganz neue Funktion zu. Aus einer a-politischen Architektur wird ein de-politisierende. Werden in China neue Städte für eine Millionen-Bevölkerung gegründet um eine Landbevölkerung in einer Sonderwirtschaftszone zu verstädtern, dann ist diese Stadtgründung mehr als ein Zweckbau und wird zu einem politischen Manifest. Wenn die Stadt dazu als Lotusblüte geplant wird und immense Wohnsiedlungen mit traditionellen „chinesischen“ Dächern gebaut werden, gerät Architektur zum Wolf im Schafspelz. Eine „Ethnisierung“ der Architektur hat zum Ziel eine De-Politisierung des architektonischen oder städtebaulichen Eingriffs zu erreichen. Jerusalem, das jahrhunderte lang mit einem lokal gewonnenen Stein gebaut wurde, ist ein klassisches Beispiel einer „vernakularen“ Architektur. Für die Stadterweiterungen in die besetzten Gebiete hinein, wird dieser regionale Stein als Vorhangfassade obligatorisch vorgeschrieben. Diese Ethnisierung der Neubau-Architektur, die die Vorstädte in ein warmes Licht tauchen lässt, verdeckt den kriegerischen Akt, mit dem Stadterweiterung betrieben wird. Durch Rückgriff auf billige architektonische Metaphern versteckt sich eine Neuplanung von politischer Signifikanz hinter anheimelnden Gefälligkeiten. Hier wird ein neuzeitliches „Vernakular“ als de-politisierendes Instrument eingesetzt. Die Ethnisierung ist Ersatz von Politik; und der Architekt spielt stolz mit.

 

Die Tatsache dass häufig der selbe Architekt amerikanische Suburbs im provencealischem Stil baut und in China neue Städte „mit lokalem Bezug“ errichtet, zeigt schon mit fast peinlicher Deutlichkeit, dass nivellierende Globalisierung und die mythisierend herausgearbeitete Ethnisierung nur zwei Seiten der selben Medaille sind. Hinter der Wiederentdeckung lokal-historischer Baustile, also der Konstruktion von Identität, steht die gleiche Ideologie, die die Globalisierung des „Produktes“ Architektur anstrebt. Mit Hilfe von Stilelementen, die ein Simulakra von Identität erzeugen, wird letztendlich eine totale Auslöschung dieser Identität verfolgt. Nichts macht „Heimatverbundenheit“ austauschbarer als der interessierte, tolerante Blick eines aufgeklärten Architekten mit dem bewussten Einsatz dieser Mittel für einen anderen Zweck. In einer Zeit, in der globale Immobilienfonds längst den immensen Vorteil der Regionalisierung ihrer Tätigkeit erkannt haben um ein Scheinbild des „Menschlichen“ zu konstruieren, im Grunde aber eine Kolonialisierung in zeitgenössischer Form betreiben, sollte ein Architekt sich nicht einem identitätsstiftenden Bezug auf den lokalen Geist hingeben und dies als Leistung darstellen. Der Genus Loci hat seine Unschuld verloren und ist in den Dienst des internationalen Kapitals getreten. Der durch regionale Stile inspirierte Architekt ist ein Betrüger, der versucht seine Handlanger-Tätigkeit als Heldentum zu verkaufen.

 

Da die klassische Moderne für den Export in die so genannten Schwellenländer nicht mehr der politischen Korrektheit entspricht, und der Rückgriff auf eine „vernakulare“ Architektur nun auch nicht legitim sein soll, fragt sich der tolerante, wissbegierige Architekt, wie er denn agieren soll, denn wie er es auch macht, scheint es falsch zu sein. Die erste Antwort heißt: Am besten erstmal gar nichts machen. Auch wenn in Zeiten einer langen Rezession nur schwer vorstellbar, sollte das Nichtstun wieder häufiger die erste Option im Kanon der Möglichkeiten eines Architekten werden. In einem verklärten Rückblick auf die siebziger Jahre erscheint dann ein neuer Brutalismus als eine zweite, angemessene Antwort. Die Reaktion auf eine Aufgabenstellung mit einer politischem Dimension (unabhängig ihrer Größe), ein Projekt von Faustscher Qualität darf nicht in der Ethnisierung und damit in der De-Politisierung liegen, sondern muss das Gewalttätige dieses Eingriffs explizit machen. In der Offensichtlichkeit und im Aufdecken liegt hierbei ein wesentlicher Bestandteil. Dass die Qualität des Brutalen auch mit anderen Materialien als dem Sichtbeton, und ohne einen formalen Rückgriff auf Smithson oder den frühen Tange ausgedrückt werden kann, ist eine größere Herausforderung an die zeitgenössischen Architekten als jede Neuinterpretation einer regionalen Bauweise.