Neufert’s Bauentwurfslehre im Britischen ‘High Court’

 

Veröffentlicht in: 70 Jahre Neufert Bauentwurfslehre; Vieweg, Wiesbaden, 2006

 

Text von Robert Jan van Pelt

 

Einleitung und Übersetzung von Manuel Herz

 

 

Als ich von der Redaktion der Anthologie "70 Jahre Bauentwurfslehre Neufert" gefragt wurde, ob ich einen Text zum besagten Buch schreiben möchte, sagte ich in einer spontanen und erfreuten Reaktion sofort zu. Im Hinterkopf hatte ich den Gedanken, die Beziehung zwischen Neuferts Grundkonzept der Rationalisierung des Planens, ihre tiefe Verflechtung in die Planungsmethodik der Moderne, und ihre tragische Affinität zum Nationalsozialismus und der Rationalisierung und Planung des Völkermords an den Juden, zu beleuchten. Eine unheilvolle Kombination, die Neufert, durch seine Tätigkeit bei Gropius und Speer vielleicht am besten personifiziert. Nach einigem langen – und durch die Erinnerungsschreiben der Redaktion immer wieder unterbrochenen – Nachdenken, kam ich dann doch zum Schluss, dass nicht eine kurze Abhandlung über ein oder zwei Seiten, sondern eine 400-seitige Doktorarbeit vermutlich der bessere und angemessenere Rahmen für eine solche Studie sein dürfte. Doch da meine – in Arbeit befindliche – Doktorarbeit sich schon einem anderen Thema widmet (Flüchtlingslager; wohl eine der wenigen Bautypologien, die im ‚Neufert’ nicht behandelt wird.) war ich in einer gewissen Bredouille. Zwei Tage vor dem allerallerletzten Abgabetermin half mir ein Freund, der Architekturhistoriker Robert Jan van Pelt, aus dieser Bedrängnis. Als weltweit wohl bedeutendster Fachmann für die Planungsgeschichte der nationalsozialistischen Vernichtungslager, hoffte ich von ihm einen Hinweis zu erhalten, wie Neufert mit seiner Bauentwurfslehre eventuell direkt oder indirekt involviert gewesen sein könnte. Die Ereignisse von denen Van Pelt mir dann erzählte, zeigen jedoch einen ganz überraschenden, anderen Dienst, den das Buch der Bauentwurfslehre innerhalb des Geflechts von Modernismus und Holocaust konkret leisten konnte:

 

 

 

 

Im Jahr 1999 strengte der Englische Autor David Irving eine Verleumdungsklage gegen die Amerikanische Historikerin Deborah Lipstadt und ihren Verlag Penguin Books an, der vom 11. Januar bis 11. April 2000 vor dem obersten Zivilgericht in London verhandelt wurde. In ihrem ‚Denying the Holocaust: The Growing Assault on Truth and Memory’ hatte Lipstadt Irving „einen der gefährlichsten Fürsprecher der Holocaust-Leugnung“ genannt.

 

Irvings Leugnung des Holocausts basiert auf einen ‚Leuchter-Report’ der mit pseudo-wissenschaftlichen Methoden nachweisen wollte, dass die Vernichtung des Europäischen Judentums nicht möglich war, dass die Verbrennungsöfen von Auschwitz zu klein waren, um eine Million Menschen einzuäschern, dass die Gaskammern nur für das Desinfizieren von Leichen, und die übrigen Räume für Autopsien genutzt wurden, um verstorbene Lagerinsassen zu untersuchen, bevor sie dann verbrannt wurden.

 

Um sich gegen die Anklage der Verleumdung zu verteidigen, mussten die Anwälte von Lipstadt und vom Penguin Verlag zeigen, dass kein ernsthafter Wissenschaftler den ‚Leuchter-Report’ als legitim anerkennen würde, dass dieser haltlos war, und dass Irving, diesem Report zustimmend, als Holocaust Leugner bezeichnet werden kann. Da ich die Archive der Auschwitz-Bauleitung als Architekturhistoriker seit 1990 ausführlich untersucht hatte, diente ich in dem Gerichtsverfahren als Sachverständiger und Zeuge der Verteidigung.

 

In meinem Gutachten, das ich im Juni 1999 dem Gericht einreichte, stellte ich den 1943 erfolgten Umbau der Leichenkeller in Gaskammern dar: Unter anderem mit einen Brief des SS Architekten Karl Bischoff vom 29. Januar 1943, in dem er „Leichenkeller 1“ von Krematorium 2 als „Vergasungskeller“ bezeichnete. In einem anderen Brief vom 6. März 1943 beschrieb Bischoff den Zweck von Leichenkeller 1 etwas indirekter: „Auf Grund Ihres Vorschlages erklärt sich die Dienststelle einverstanden, dass der Keller 1 mit der Abluft aus den Räumen der drei Saugzuganlagen vorgewärmt wird. Die Anlieferung und der Einbau der hierfür benötigten Rohrleitungen und der Druckluftgebläse muss schnellstens erfolgen.“ Es macht keinen Sinn, einen Leichenkeller vorzuheizen, jedoch macht es sehr wohl Sinn, eine Gaskammer vorzuheizen, da es die Entgasung des Zyanids aus den Zyklon-B Pellets beschleunigt. Ein anderer Beweis für den Umbau zu Gaskammern war ein Brief des Lagerarztes Dr. Wirth vom 22. Januar 1943 mit dem Satz: „Ferner wird darum geben, in den Kellerräumen einen Auskleidekeller vorzusehen.“

Nachdem ich das Gutachten im Juni 1999 eingereicht hatte, erhielt ich von Irving die Anfrage, ob ich die 1944 Ausgabe von Neuferts Bauentwurfslehre besitze, und diese zum Kreuzverhör im Januar 2000 zum Gericht bringen könnte. Da ich in meinem Gutachten auf Neuferts Buch nicht eingegangen war, war ich etwas überrascht.

 

In dem Kreuzverhör, dass am 24. Januar 2000 stattfand, versuchte Irving zu belegen, dass die Krematorien 2 und 3 für Autopsien genutzt wurden, bezog sich auf den von mir zitierten Brief des SS Architekten Bischoff und dessen Erwähnung der ‚Vorwärmung’ und zog dann seine Ausgabe von Neuferts Bauentwurfslehre hervor um aus dem Abschnitt „Krematorien“ zu zitieren: „Der Wärmestand im Leichenhaus ≥2° - ≤12°, nie darunter, weil Frost die Leichen ausdehnt und sprengen kann. Durch Sammelheizung und Kühlung muß dieser Wärmestand gehalten werden, bei ständiger Lüftung vor allem im Sommer.“ Mit dem Verweis auf den akzeptierten Standard der Baukonstruktionslehre meinte er beweisen zu können, dass eine Beheizung einer Leichenhalle ein ganz normaler Vorgang wäre. Allerdings überspielte er damit den wichtigen Unterschied zwischen ‚Wärmestand’, und ‚Vorwärmung’, da Letzteres eindeutig nur eine Vorbereitung auf eine nachfolgende Handlung ist, die Vergasung.

 

In einem anschließenden Kreuzverhör zwischen dem vorsitzenden Anwalt der Verteidigung, Richard Rampton, und Irving, ging es um den ‚Auskleideraum,’ dessen Harmlosigkeit Irving auch mit Neufert zu erklären versuchte:

 

R. Rampton: „Ihre These ist, dass der in dem Schreiben erwähnte Auskleideraum dem Auskleiden von Menschen dient, die schon tot sind. Ist das so richtig?“

 

D. Irving: „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie den Neufert gelesen haben, der das Standard-Handbuch für Architekten in Deutschland der letzten sieben oder acht Jahrzehnte ist? Professor Jan van Pelt und ich haben jeweils eine Ausgabe aus den Kriegsjahren vom Neufert erworben, und das Grundrisschema von Leichenkellern und Krematorien, die jeweils einen Auskleideraum beinhalten, wird darin detailliert beschrieben. Für einen fachgemäß geplanten Leichenkeller ist ein Auskleideraum also nichts Ungewöhnliches.“

 

Und so ging Neufert in die offiziellen Niederschriften des Irving-Lipstadt Falles ein, und hatte Anteil an einem Stück der Britischen Rechtsgeschichte. Irving sollte sich noch einige weitere Male die Autorität von Neufert in Bezug auf Krematorien berufen, in seinem Versuch die überwältigende Belege für den Völkermordenden Einsatz der Gaskammern in Frage zu stellen. Aber so einfach ließ sich Neufert nicht missbrauchen, und der vorsitzende Richter Mr. Justice Charles Gray auch nicht überrumpeln. Am Ende akzeptierte er keine der Argumente Irvings, der seine Verleumdungsklage in allen Aspekten verlor. Der Missbrauch Neuferts misslang und Charles Gray verdammte in seinem Urteil Irving als „unerbittlichen Holocaust Leugner.“